Wein und Blutwurst

„Nee, das fängt ja erst nachmittags an. So von vier bis 6 Uhr. Danach wollen wir grillen bei uns im Garten.“

Vier bis sechs Uhr. Zwei Stunden. Überschaubar, denn zwei Stunden sind schnell vorbei. Ein Treffen von zwei Stunden, eine Wanderung von zwei Stunden, zwei Stunden Autofahrt oder zwei Stunden warten: Das ist nicht nichts. Aber eine gute Mischung von „ich kann mich hineinfinden“ und „wenn es mich nervt, ist es auch flott wieder vorbei“.

So die Theorie.

Mit Weinproben kann ich nicht wahnsinnig viel anfangen. Klar, die eine oder andere habe ich schon gemacht, meist im Urlaub im Ausland, wo ja gleich doppelt andere Regeln gelten, keine Grenzen quasi. Wenn in Porto die Wine Cellars um 11 Uhr öffnen, um sich vor dem Mittagessen den 19%igen Portwein in mindestens dreifacher Ausfertigung zu gönnen, braucht niemand ein schlechtes Gewissen zu haben.
Oder der Ausflug zum Weingut im australischen Hinterland Victorias, zwei Stunden von Melbourne im Kleinbus gesessen, Landschaften, die man sonst nur im Reiseführer kennt: Vier Weine, danach Mittagessen, dann noch mal drei. Selbst die Whiskey-Verkostung in Schottland, die immerhin kurz nach dem Mittagessen beginnt: no problemo. Wir sind alle hier, um uns guten Gewissens ein wenig Nervengift reinzupfeifen, weil das Leben sonst so unspektakulär vorbei rauscht.

Und nun meine erste Weinprobe im Inland. Nicht im Urlaub, sondern am Wochenende, sogar an einem Samstag, an dem eigentlich „geschafft“ wird. Wer hat die Zeit, sich samstags von sämtlichen Haushaltspflichten zu entbinden?

Wie sich rausstellt, sind das circa 15 Personen der Familie S. Und ich. Wie erwartet kann die Weinprobe nicht pünktlich starten, weil wir nicht rechtzeitig zum Weingut kommen. Aber bei so vielen Teilnehmern ist eben im Vorfeld viel zu tun, allein das Abholen und Einpacken der Unmengen von Essen füllt nicht nur die Kofferräume zweier Kombis, sondern auch die entscheidenden Minuten.

Aber was macht das schon? Die beiden Winzer, die durch die Weinprobe führen, sind Verwandtschaft der Familie S. Als wir verspätet ankommen, ist einer der beiden auch noch nicht da.

Was gibt es Schöneres, als an einem Samstag viel Zeit zu haben? Und Dinge zur Abwechslung mal locker zu nehmen, nicht ins Wasser zu fallen, sondern einfach auf der Welle mitzusurfen?

An den beiden Winzern, von denen jeder ein eigenes Weingut bewirtschaftet, die aber Zwillingsbrüder sind, sind Comedians verloren gegangen. Das macht die Weinprobe einmalig (ich brauchte ab und zu Übersetzungshilfe Pfälzisch-Deutsch). Aber wie bei jedem Comedian liegen einige Pointen im Graubereich, den manche extrem witzig finden und andere schnell einen Schluck Wein trinken, um nicht zu offensichtlich das Gesicht zu verziehen.

Die Zeit verfliegt, wie sie es immer tut, wenn man sich amüsiert. Ein Wein, drei, acht. Der Spucki wird sporadisch genutzt und die Wurstplatte bekommt immer mehr Lücken. Blutwurst mit Rotem Riesling schmeckt gar nicht so schlecht, stelle ich fest. Prompt ist es halb sieben, sieben, halb acht. Wie war das mit dem Grillen? Nur die Minderheit schaut auf die Uhr.

Das Baby fängt an zu weinen, seine Schlafenszeit ist gekommen, aber immerhin schreit es nicht. Oder leider, denn das hätte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf die Zeit gelenkt. Um acht liegt es friedlich schlafend draußen im Kinderwagen und bei Wein Nummer 14 beneide ich es. Um halb neun frage ich mich, ob ein Fehler in der Matrix vorliegt und es eigentlich noch viel früher ist, weil wir ja noch grillen wollen. Um viertel vor 9 sind endlich alle Weine probiert, es wird zusammengepackt, ab nach Hause.
Die Hälfte der Teilnehmenden hält es genauso und klinkt sich kurzfristig fürs Grillen aus. Ich kann es ihnen nicht verübeln, habe aber solchen Hunger, dass ich um kurz vor zehn ein Steak und ein Würstchen esse. Nach Wein und Blutwurst kommt es darauf wohl auch nicht mehr an. Trotzdem schaufele ich mir Karotten- und Rote Bete Salat auf den Teller.


Fürs gute Gewissen nach der unendlichen Weinprobe und weil das Leben schöner wird, wenn man ein wenig netter zu sich selbst ist.